"Um erfolgreich zu sein, braucht es keine hohe Anzahl von Menschen, sondern eine Gruppe sehr aktiver Unterstützer", sagt Jeannette Gusko von change.org
Im Interview mit der Campaigning Academy spricht Jeannette Gusko, Leiterin für Kommunikations bei der weltgrößten Kampagnenplattform change.org, über den Mehrwert von Online-Petitionen und erklärt, welche Geschichte hinter einer Petition sie am meisten berührt hat. Außerdem gibt sie fünf wertvolle Tipps für erfolgreiche und wirkungsvolle Online-Petitionen.
Volker Gaßner: Change.org ist, nach eigenen Angaben, die größte Kampagnenplattform der Welt. Auch in Deutschland ist Change in den letzten Jahren sehr aktiv geworden. Wofür steht Change.org genau und wer sollte die Plattform nutzen? Jeannette Gusko: Wir sind eine offene Plattform und ermöglichen es so jedem Menschen weltweit, sich gemeinsam mit Anderen für die Anliegen einzusetzen, die ihm wichtig sind. Konkret starten Menschen Online-Petitionen und mobilisieren Unterstützer, machen Medien auf ihre Kampagne aufmerksam und gehen mit ihrer Idee auf Entscheidungsträger zu. Insgesamt sind 95 Millionen Menschen weltweit aktiv. So hat Anne Katrin Frihs aus Berlin die Verkehrsbehörde ihres Bezirks überzeugt, einen Zebrastreifen vor der KiTa ihrer Tochter einzurichten. In Großbritannien erreichte die 17-jährige Fahma Mohamed gemeinsam mit über 230.000 Menschen, dass der Bildungsminister eine Aufklärungskampagne über weibliche Genitalverstümmelung an allen britischen Schulen in Auftrag gab. So vielfältig wie die Themen und Interessen der Menschen, so breit gestreut sind auch die Kampagnen auf unserer Seite - derzeit werden 25.000 Petitionen jeden Monat gestartet, 400 monatlich in Deutschland.
Volker Gaßner: Große und kleine NGOs in Deutschland arbeiten doch schon seit Jahren mit Newslettern, Unterschriftenaktionen und Petitionen, was ist für Organisationen der Mehrwert einer Petition auf Change?
Jeannette Gusko: Organisationen können maßgeschneiderte gesponserte Online-Kampagnen auf Change.org starten - ihnen steht dann die gesamte Technologie zur Verfügung, auch für globale Kampagnen mehrerer Landesbüros. Welche Ziele die Kampagne verfolgt, legt jede Organisation selbst fest - je nachdem, wo sie gerade steht. Es ist z.B. möglich, mit neuen Interessierten zusammenzukommen, die künftig Freiwillige oder Spender werden könnten. Es bietet sich aber auch an, sogenannte “Pledges” (öffentliche Versprechen) im Rahmen einer Kampagne zu schalten oder Spendenaufrufe zu starten. Ein aktuelles Beispiel ist Oxfam, die nach dem Erdbeben in Nepal eine Eil-Spendenkampagne gestartet haben - sie haben den Vorteil, über Change.org in kürzester Zeit auf engagierte Menschen zu treffen. Foodwatch kann mithilfe seiner gesponserten Petition gegen gentechnisch veränderte Lebensmittel in Europa Interessierte zum weiterführenden Newsletter einladen. All dies geschieht immer mit Zustimmung der Nutzer jeweils pro Organisation. Langfristig können wir so das zivilgesellschaftliche Engagement insgesamt stärken und NGOs beratend unterstützen, sich im digitalen Campaigning und Fundraising zu etablieren.
Volker Gaßner: Weltweit gibt es eine wahre Flut an Petitionen und Unterschriftenaktionen. Besteht nicht die große Gefahr, dass sich dieses Tool irgendwann einmal abnutzt?
Jeannette Gusko: Das Tolle daran eine offene Plattform zu sein, ist ja gerade, dass wir eine riesige Bandbreite von Themen aus allen Lebenslagen von Menschen auf Change.org sehen. Gerade Parteien und NGOs, aber auch Unternehmen treibt die Frage um, wie sie mehr Partizipation erzeugen können. Immer mehr Menschen finden das Instrument der Online-Petition offenbar so eingängig, einfach und effektiv, dass sie es nutzen. Auch [bctt tweet="die Zahl der angemeldeten Demonstrationen hat sich seit 2007 in Deutschland verfünffacht."] Beide Formen des Engagements sind Wesenszug eines Kulturwandels und zeigen den Wunsch vieler, sich stärker an Entscheidungen, die ihr Leben betreffen, zu beteiligen. Hierin liegt eine echte Chance für Entscheidungsträger, in den Dialog zu treten und gemeinsam bessere Lösungen zu finden.
Volker Gaßner: Du sagst, dass rund aller Nutzerinnen und Nutzer von Change.org bereits mindestens an einer erfolgreichen Petition beteiligt waren. Wie definiert und messt ihr den Erfolg einer Petition?
Jeannette Gusko: [bctt tweet="Kampagnen auf Change.org können überall auf der Welt von Menschen gestartet werden."] Die Petitionsstarter entscheiden, ob sie ihr Ziel, mit dem sie angetreten sind, erreicht haben. Wir ermutigen sie dann, diesen Erfolg im Anschluss mit allen Unterstützern per E-Mail zu teilen. Unsere wichtigste Kennzahl, die wir als Sozialunternehmen messen, ist die Anzahl derjenigen Menschen, die an mindestens einem Erfolg beteiligt waren, also eine erfolgreiche Petition auf Change.org gestartet oder gezeichnet haben. Auf über ein Drittel aller deutschen Nutzer trifft das zu. Weltweit waren über 37 Millionen Menschen an einer erfolgreichen Petition beteiligt. Global ist jede Stunde eine Change.org-Petition erfolgreich, in Deutschland alle vier Tage.
Volker Gaßner: Was war eure erfolgreichste Petition und welche Geschichte steckt dahinter? Welche Geschichte hat dich am meisten berührt?
Jeannette Gusko: Die erfolgreichsten Petitionen auf Change.org in Deutschland sind sicherlich die Elternproteste für Hebammen seit 2013. Eine Gruppe engagierter Eltern, angeführt von den beiden Müttern Anke Bastrop und Bianca Kasting haben eine Bürgerbewegung von über einer halben Million Menschen mobilisiert. Anke Bastrop hat am Abend der Bundestagswahl 2013 beschlossen, dass die Sicherung des Hebammenwesens im Koalitionsvertrag verankert werden müsste. Deshalb startete sie eine Petition auf Change.org an die beiden Verhandlungsführer der Gruppe Gesundheit von SPD und CDU. Sie übergab 80.000 Unterschriften an Karl Lauterbach (SPD) und überzeugte kurz vor Ende der Gespräche mit der Unterstützung ihrer Zeichner auch Jens Spahn, CDU. Danach übernahm eine Zeichnerin die Kampagnenführung: Bianca Kasting mobilisierte über 430.000 Menschen, für die Hebammen zu unterzeichnen und darüber hinaus aktiv zu werden: Demonstrationen in allen deutschen Großstädten, lokale Mahnwachen und Sit-Ins, Crowdfunding, Protest-Fahrradtour und zwei Treffen mit Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe. Die Eltern haben teils bis zum Ende ihrer Kräfte gekämpft und einige Verbesserungen für Hebammen erreicht. Ich habe großen Respekt vor denjenigen, die den Mut haben für ihre Ziele öffentlich einzustehen und dafür Risiken einzugehen. Mich persönlich bewegen Kampagnen für wirtschaftliche Gerechtigkeit sehr. Der Hamburger Flughafen hat vor kurzem 97 Anzeigen gegen Flaschensammler zurückgezogen, nachdem innerhalb von vier Tagen über 50.000 Menschen eine Petition eines Mitarbeiter der Hamburger Obdachlosenzeitung „Hinz und Kunzt” unterschrieben haben. Erst twitterte das Management „Wir haben verstanden.”, danach wurde bei einem Runden Tisch eine Lösung gefunden. Es mag ein kleiner Schritt gewesen sein, aber er gab Menschen, die es eh schon schwer haben im Leben, ein Stück ihrer Würde zurück.
Volker Gaßner: Kannst du uns fünf Tipps geben, was es braucht eine erfolgreiche Petition zu starten?
Jeannette Gusko:
Die eigene Geschichte teilen: Ein persönlicher Bezug zur Forderung motiviert Menschen, eine Kampagne zu unterstützen.
Bilder und Videos einbinden: Unsere Zahlen zeigen, dass Fotos und Videos die Wahrscheinlichkeit eines Erfolges um das siebenfache erhöhen.
Den richtigen Entscheidungsträger finden: Wer trifft wirklich die Entscheidung bei meinem Anliegen? Wie kann ich an diese Person herantreten?
Die ersten Unterstützer nutzen: Familie, Freunde, Kollegen und Aktive tragen die Kampagne weiter und sind ihre stärksten Fürsprecher. Um erfolgreich zu sein, braucht es keine hohe Anzahl von Menschen, sondern eine Gruppe sehr aktiver Unterstützer. [bctt tweet="40% aller Kampagnen auf Change.org gewinnen mit weniger als 200 Zeichnern."]
Klare Forderung, lokaler Bezug: Gerade Einzelpersonen können Veränderungen dann anstoßen, wenn sie konkrete, mögliche Forderungen stellen, die auch erfüllt werden können. So verändern sie die Welt Schritt für Schritt und inspirieren andere, es ihnen gleich zu tun.